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Referenzen

 

Gezeichnet: ts


Geboren am 3. August 1974 in Kempten/Allgäu.

 

Erste journalistische Erfahrungen bereits während der Schul- und Zivildienstzeit als freier Mitarbeiter bei der Allgäuer Zeitung, Kempten. 1996 bis 1998 Volontariat bei der Augsburger Allgemeinen/Allgäuer Zeitung, anschließend Redakteur in der Lokalredaktion Füssen.

 

Seit 1999 Student der Diplom-Medienwissenschaft an der Universität Paderborn. Seitdem schreibt er als freier Mitarbeiter für verschiedene Tageszeitungen und Sport-Magazine und absolvierte Praktika im Philippka-Verlag (Münster), bei der BILD-Zeitung (München), bei dem Online-Angebot des "Sportinformationsdienstes" sid new media (Neuss), im ZDF-Auslandsjournal (Mainz) sowie bei der Agentur ddp in Düsseldorf. Im Herbst 2003 schließt sich ein Praktikum am Goethe-Zentrum in Kapstadt an, ehe er Ende des Jahres sein Studium beendet.

 


Tobias Schuhwerk erhält den Journalistenpreis der deutschen Zeitungen - Theodor-Wolff-Preis 2003 in der Kategorie "Lokales" für den Beitrag "Der Mensch blieb Mensch", erschienen in der Allgäuer Zeitung, Kempten, am 11. September 2002.

 

Genau ein Jahr nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erinnert der Autor an bewegte Reaktionen im Verbreitungsgebiet seiner Ausgabe im Allgäu. Er beschreibt Details der Betroffenheit von Kindern in einer "Märchenstube", offizieller Trauerbekundungen im Rathaus sowie kirchlicher Versuche der Aufarbeitung. Schuhwerk überprüft, was aus den spontanen Absichten und Aktionen geworden ist, und schildert ein Jahr danach den von Vergessen geprägten Alltag an den selben Stellen und in den selben Köpfen. Die Reportage ist eine schonungslose Darstellung zwischen spontanen Gefühlsreaktionen und der Schnelllebigkeit, die wieder in den Alltag führt. Der Beitrag besticht durch seine lokale Nähe und durch seine einzigartige Form der Schilderung von Gegensätzen.

 

 


"Der Mensch blieb Mensch"

 

Von Tobias Schuhwerk

 

 

Diese Geschichte beginnt mit einer Märchenfee. Einer, die gewohnt ist, Kinderaugen zum Strahlen zu bringen. Am Schluss taucht die Märchenfee noch einmal auf. Sie wird einen Wunsch erfüllen. So wie Märchenfeen das immer tun. Immer. Nur nicht an diesem Nachmittag. Die Märchenfee heißt Marie Luise Kaiser und wohnt in Schwangau. An besagtem Nachmittag will die 49-jährige Autorin in ihrer "Märchenstube" ein Herbstfest feiern. Doch als ihre Gäste, acht Buben und Mädchen im Alter zwischen fünf und elf Jahren, den Raum betreten, herrscht Stimmung wie auf einer Beerdigung. Die Kinder sprechen über die Fernsehbilder, erzählen von den beiden Flugzeugen, die sich in die Türme bohrten, und von den Menschen, die aus den Fenstern sprangen. Sie sagen, dass sie auf jemand gewartet haben, der das alles stoppt. Auf King Kong und Supermann. Oder auf die Märchenfee. "Kannst Du nicht machen, dass das alles nicht passiert ist?", fragen sie. Marie Luise Kaiser zögert mit der Antwort. Was die Kinder gesehen haben, ist echt. Kein Märchen, das sie zu einem guten Ende führen kann. Genauso sagt sie es ihren Gästen. An diesem Nachmittag sprechen sie lange miteinander. Sie beschließen, Plüschtiere zu sammeln für die Waisenkinder der Terroranschläge in New York. Bevor die Schwangauer Buben und Mädchen nach Hause gehen, knoten sie schwarze Wolle an einen Ast, den sie vor die Haustür hängen. Jeder soll sehen, dass sie trauern. Das war vor einem Jahr.

In der Füssener Stadtverwaltung ist die Trauer offiziell dokumentiert. Engelbert Lipovsky, zuständig für Personalwesen bei der Stadt Füssen, übergibt dem Besucher ein Buch mit schwarzem Umschlag. Nach den Anschlägen, lag das Kondolenzbuch bei Füssen Tourismus aus. Es sei "sehr stark frequentiert gewesen", erinnert sich der um Sachlichkeit bemühte Herr Lipovsky. 438 Menschen versuchten, ihre Fassungslosigkeit in Worte zu fassen. Einer schrieb: "Wir gedenken der unschuldigen Toten und sehen nun, wozu kranke, fanatische Hirne fähig sind. Sie haben Gott vergessen." Oder etwa: Gott uns?

Pfarrer Matthias Schricker, der wenige Tage nach dem 11. September die evangelische Gemeinde Füssen übernahm, weiß nicht, wie oft er diese Frage seither gestellt bekommen hat. Er weiß nur, dass er sie nicht beantworten kann. Der 33-Jährige findet Trost in dem Bewusstsein, "dass es einen Gott gibt, der mich begleitet, wenn ich Sorgen habe". Dieser Gott hat sich für ihn nicht verändert. Aber was ist mit den Menschen? Sind sie besser geworden, Herr Pfarrer? Schricker überlegt kurz. "Nein", sagt er. "Der Mensch blieb Mensch. Mit einer dunklen Seite und einer aus Schokolade." Nur, dass die Schokoladenseite plötzlich allgegenwärtig schien, in jenen Tagen nach dem 11. September. Wie betäubt von den Fernsehbildern versanken die Menschen in innerer Einkehr. In den Betrieben in und um Füssen legten sie Schweigeminuten ein, sagten Partys ab und sangen in der Krippkirche "Lass für Frieden uns und Freiheit immer tätig sein". Im Bemühen um ein besseres Miteinander suchten Christen Kontakt zu den Muslimen in der Moschee in der Zalinger Straße. "Das Interesse an unserem Glauben war sehr groß", erinnert sich Fakih Ötztürk (37), Prediger der islamischen Gemeinde Füssen. Ein inter-religiöser Gesprächskreis wurde ins Leben gerufen - und löste sich nach einem Treffen wieder auf. Vielleicht, weil die Atmosphäre gekünstelt wirkte.

Vielleicht auch, weil sich die Wirkung der dramatischen Fernsehaufnahmen verflüchtigte: Wenn man ein brutales Bild immer wieder sieht, verliert es den Effekt. Nicht bei der zehnten Wiederholung, aber bei der 50sten oder 100sten. "Wir haben die Ereignisse schneller in unser Leben integriert als jede andere Generation vor uns das getan hätte", sagt Pfarrer Schricker. Unter der Überschrift "Rückkehr zur Normalität" nahmen die Dinge ihren Lauf: Der EVF gewann 4:3 gegen HC Fassa, das Kondolenzbuch verschwand in einem Schrank im Bürgermeistervorzimmer, im Hallenbad wurde ein Handy gestohlen und im Stadtrat stritten sie darüber, ob Einheimischen die gleichen Eintrittsvergünstigungen zustehen wie Gästen. Es war, nun ja, wie immer. Auch in der Märchenstube in Schwangau, wo die Kinder alsbald wieder spielten und lachten. Die einzige sichtbare Veränderung vollzog sich im Keller. Mit jedem Tag wuchs der Berg von Kuscheltieren. 500 Stück sind es inzwischen. Ihr Ziel erreichten sie bislang nicht, weil Marie Luise Kaiser keinen Sponsor fand, der die Fracht nach Amerika transportierte.

Vielleicht hätte sie Jon Goldsworthy fragen sollen. Im Juli dieses Jahres flog der König-Ludwig-Darsteller nach New York, wo er vor Witwen und Waisen des 11. Septembers aus dem Musical sang. Ergreifend sei das gewesen, sagt Goldsworthy. "Die Menschen haben sich gefreut." Ein bisschen zumindest. Über diesen König in weiß-blauem Gewand, der ihnen einen Teil seines Reiches schenkte, das aus Musik besteht. "Wer sich in eine Melodie hineinversetzen kann, der empfindet keinen Hass", lautet seit dem 11. September das Credo des 40-jährigen Amerikaners.

Heute Abend steht Goldsworthy wieder auf der Musical-Bühne. Er gedenkt der Opfer des Terrors, wenn er diese Zeilen singt: "Was ist Macht? Was ist ein König? Wer soll entscheiden über Leben oder Tod?" In der Schwangauer Märchenstube wollen sie heute nicht über den Tod sprechen. Ab 15 Uhr spielt Marie Luise Kaiser das Stück "Kasperle und die verschwundene Katze". Heiter soll es sein, mit einem guten Ende. Die Kinder haben es sich so gewünscht.

 

Allgäuer Zeitung
Nr. 210 vom 11 September 2002

 

Letzte Änderung  28. Juni  2008